Weltweit sorgt das ungewisse Schicksal der mehr als 200 in Nigeria entführten Mädchen für Empörung. Über Maßnahmen gegen die Entführer, die islamistische Boko Haram, berät heute ein Gipfel in Paris. Zuhause gerät Nigerias Präsident unter Druck.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat

Lawan Zanna weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Die Polizei hat ihm das Video der Terrorgruppe Boko Haram gezeigt. Lawan erkannte seine Tochter Zara. Ganz links hinten steht sie, auf dem furchterregenden Gruppenbild, das die Entführer inszeniert haben.

"Ja, ich habe meine Tochter entdeckt", sagt er einem nigerianischen Reporter, während hinter ihm das Boko Haram-Video weiterläuft. "Meine Tochter sieht anders aus, sehr eingeschüchtert."

Fast 80 der über 220 entführten Mädchen konnten inzwischen von ihren Eltern identifiziert werden. Sie sehen, dass ihre Kinder leiden. "Sie werden nicht gut behandelt", sagt Zaras Vater Lawan vorsichtig und befürchtet das Schlimmste. "Ich bin froh, dass meine Tochter lebt. Aber ich weiß nicht, wie ich sie endlich zurückbekommen kann. Ich bete, ich flehe die internationale Gemeinschaft an, sie möge uns helfen und unsere Kinder retten."

Inzwischen kursiert ein weiteres Video in Nigerias sozialen Netzwerken. Es zeigt, wie ein verschleiertes Mädchen von Terroristen bis zum Kopf im Boden eingegraben und gesteinigt wird. Niemand weiß, woher die verwackelten Handy-Bilder stammen. Fest steht nur: Sie versetzten die Menschen noch weiter in Panik.

Die betroffenen Eltern hoffen, dass nun US-amerikanische Drohnen und Experten aus aller Welt ihre Töchter finden. Aber sie können nicht verstehen, warum Nigerias Präsident Goodluck Jonathan Verhandlungen mit Boko Haram strikt ausschließt. Gerade noch war von "Dialogbereitschaft" die Rede. Jetzt weigert sich die Regierung, auf die Forderung von Boko Haram einzugehen - also inhaftierte Kämpfer freizulassen, um sie gegen die Mädchen auszutauschen.

Dabei sei Verhandeln kein Zeichen von Schwäche, heißt es auf den Straßen von Abuja. "Das macht mich alles unbeschreiblich wütend", schreit eine Demonstrantin. "Unsere Regierung hätte die Gefahr viel früher erkennen und handeln müssen. Wir haben viel Zeit verloren. Seit einem Monat wissen wir nicht, wo die Mädchen sind. Deswegen sehen Sie hier immer mehr wütende Frauen und Männer!"

Die Wut wächst weiter. Im Norden Nigerias nehmen die Bürger den Kampf gegen die Terroristen mittlerweile selbst in die Hand. Mit Äxten und Macheten töteten sie Dutzende vermeintliche Boko-Haram-Mitglieder. In der Boko-Haram-Hochburg Maiduguri schossen Soldaten der nigerianischen Armee auf ihren Kommandanten, weil der zu wenig für die Sicherheit der Truppen im Kampf gegen die Terroristen tue.

Die Reste staatlicher Ordnung scheinen sich im Norden Nigerias gerade aufzulösen. Das wiederum macht inzwischen den Nachbarstaaten Nigerias immer mehr Sorgen. Boko Haram, so fürchtet auch der französische Terrorexperte Mathieu Guidère, könnte die anarchischen Zustände nutzen und sich auch in Kamerun, in Benin, im Niger oder im Tschad ausbreiten.

"Bis auf Weiteres wird Boko Haram ein nigerianisches Problem bleiben. Aber wir können davon ausgehen, dass das nicht so bleiben wird. Denn nach allem, was wir wissen, gibt es Verbindungen zu anderen Terrornetzwerken. Wenn Nigeria nicht dagegenhält, könnte Boko Haram eine regionale, eine internationale Bedrohung werden, eine neue Al Kaida in dieser Ecke der Welt", warnt Guidère.

Auch deshalb lädt Frankreichs Staatspräsident François Hollande an diesem Samstag zu einem Krisentreffen. In Paris will Nigerias Regierung mit Vertretern aus den Nachbarländern über eine gemeinsame Strategie zur Terrorbekämpfung beraten. Für die entführten Mädchen beginnt bereits der zweite Monat in Gefangenschaft.

Stand: 17.05.2014 01:35 Uhr
http://www.tagesschau.de/ausland/nigeria626.html