Mehr als 300 Menschen sind im Jahr 2009 bei dem Erdbeben in der italienischen Stadt L'Aquila ums Leben gekommen, rund 70.000 wurden obdachlos. Fünf Jahre nach der Katastrophe haben viele resigniert, andere wurden zu Kämpfern.
Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom

Das Unglück brach über diese Stadt mitten in der Nacht herein. Ein Albtraum, der nun schon fünf Jahre dauert. Tausende Bürger von L’Aquila sind fünf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in die Altstadt gezogen, vorbei an den Ruinen ihrer Häuser zum Domplatz, um dort der Opfer des Bebens vom 6. April zu gedenken.

309 Menschen starben bei der Naturkatastrophe, 70.000 wurden obdachlos. Der 6. April 2009 um 3:32 Uhr: Für die Menschen in L’Aquila ist das die Stunde Null. Der Punkt, an dem sich alles orientiert. War das vor oder nach dem Erdbeben?

Vor dem Beben hatte sich Antonietta Centofanti mit ihrem Neffen noch zum Abendessen getroffen und Pläne geschmiedet. Er träumte von einer Reise in die USA. Der damals 19-Jährige starb in der Nacht im Studentenwohnheim. "Er hatte schon einige wichtige Prüfungen geschafft, ihm war das Stipendium bestätigt worden und dann .... In dem Haus sind acht junge Leute ums Leben gekommen", sagt Centofanti.

Schon Monate vor dem großen Beben waren die Menschen in L’Aquila und Umgebung beunruhigt. Immer wieder gab es Erdstöße in den Abruzzen. Doch die Experten versicherten den verängstigten Menschen: Alles halb so schlimm. Centofanti erinnert sich: "Im April gab es immer mehr Beben. Und man hat uns gesagt, dass die Stöße ein gutes Zeichen seien. Auf die Weise würde die Erde Energie ableiten."

Deshalb lagen die meisten friedlich in ihren Betten, als dieser gigantische Stoß der Stärke 6,3 die Erde erschütterte. Auch Feuerwehrmann Gabriele Miconi. Er war zu Hause, hatte keinen Dienst. Doch der begann sofort, nachdem er seine Familie in Sicherheit gebracht hatte. Er eilte mit einem Kollegen in die Altstadt, wo aus allen Gebäuden die Menschen um Hilfe riefen, erinnert er sich.

Eine Stadt eingehüllt in eine Staubwolke, das ist das Bild, an das sich Miconi heute erinnert. Überall Staub, man atmete Staub. Und dann hat der Feuerwehrmann angefangen zu graben: Zwei Tage und zwei Nächte ohne Pause. "Sie waren in ihren Häusern gefangen und wir haben angefangen, sie zu befreien. Leider haben wir auch viele Tote gefunden", sagt er.

In der Altstadt von L’Aquila ist die Verwüstung, die dieses Beben hinterlassen hat, noch allgegenwärtig. Kaum ein Haus ist bewohnbar, viele Gebäude stehen nur dank massiver Stahlträger. Immerhin: Nach Jahren des Nichtstuns wird am Wiederaufbau gearbeitet. Zuständig dafür ist Paolo Aielli, ein Manager aus der Privatwirtschaft, den die italienische Regierung nach L’Aquila geschickt hat. Seit April 2013 seien mehr als eine Milliarde Euro für die Arbeiten freigegeben worden. "Wenn Sie heute in die Altstadt gehen und in einem Monat zurückkommen, werden Sie sehen, wie viele Baustellen da sein werden", sagt Aielli.

Wie langsam und zäh die Verwaltung in Italien arbeitet, erlebt Aielli vor allem bei den öffentlichen Gebäuden. Seit fünf Jahren findet der Unterricht in den meisten Schulen von L’Aquila in Containern statt. Obwohl die Mittel für Neubauten schon lange bewilligt sind. "Ich komme aus der Privatwirtschaft und deshalb habe ich vielleicht nicht das Feingefühl, um die Komplexität der öffentlichen Verwaltung zu verstehen", sagt Aielli. "Doch das hier ist Wahnsinn, den ich mir nicht erklären kann."

Es gibt viele Menschen in L’Aquila, die resigniert haben. In den Jahren nach dem Beben sind außergewöhnlich viele alte Menschen gestorben - traumatisiert vom Erlebten, ohne Perspektive für die Zukunft. Das sind die Opfer, die niemand zählt. Andere hat das Erdbeben zu Kämpfern gemacht. Antonietta Centofanti, deren Neffe unter den Trümmern des Studentenwohnheims starb, vertrat als Nebenklägerin in einem Prozess die Interessen der Angehörigen.

Sie habe sich für den Weg der rechtlichen Opposition entschieden, schon am Tag nach der Beerdigung, sagt sie. "Wir wollten kein Staatsbegräbnis, wir wollten die Toten nicht den Behörden übergeben, weil die sie nicht zu Lebzeiten beschützt hatten. Die hatten kein Recht darauf, sie zu begraben. Wir leben und verlangen Gerechtigkeit."

Stand: 06.04.2014 10:24 Uhr
http://www.tagesschau.de/ausland/laquila...italien100.html