Wenn Pflegebedürftige die Kosten für ihre Versorgung nicht zahlen können, springt das Sozialamt mit der "Hilfe zur Pflege" ein. Seit Jahren steigt die Zahl der Empfänger. Dem aktuellsten Stand von 2012 zufolge sind etwa 40 Prozent der stationär Pflegebedürftigen darauf angewiesen.
Von Tamara Anthony, ARD-Hauptstadtstudio

Viele Jahre hat Oliver Stenzel seine Tante zuhause gepflegt. Er hat für sie eingekauft, ihre Wohnung in Stand gehalten und abends mit ihr zusammen gegessen. Seine Tante ist dement, immer öfter vergaß sie die Zeit. Dann aß und trank sie den ganzen Tag über nichts, wollte nachts einkaufen gehen oder saß viele Stunden in der kalten Badewanne. Oliver Stenzel hätte seinen Vollzeitjob aufgeben müssen, um sich um seine Tante zu kümmern. Darum entschied er mit ihr zusammen, nach einem Platz im Pflegeheim zu suchen. Seit drei Wochen ist Regina Fahlbusch nun in einer Caritas-Einrichtung.

Doch wie die Kosten geschultert werden sollen, ist noch unklar, noch läuft der Antrag bei der Pflegeversicherung. "Aber selbst wenn die Pflegeversicherung eine Pflegestufe anerkennt, kommen noch Kosten auf uns zu", weiß Stenzel.

"Es ist ja ein Trugschluss zu denken, mit der Pflegeversicherung seien alle Kosten abgedeckt." Noch hofft er, dass die Pflegeversicherung überhaupt einspringt und die Rente ausreicht, sonst muss er für seine Tante beim Sozialamt "Hilfe zur Pflege" beantragen. "Das ist natürlich für jemanden aus der Generation, in der meine Tante ist, ein sehr schwerer Schritt", meint Stenzel. "Das wäre etwas, das könnte ich ihr gar nicht vermitteln, das müsste man dann ohne ihr Wissen machen."

Vor der Schwierigkeit stehen viele Pflegebedürftige und deren Angehörige. Nach den nun veröffentlichten Zahlen des statistischen Bundesamtes konnten 439.000 Pflegebedürftige die Kosten für ihre Versorgung nicht alleine bzw. durch ihre Angehörigen schultern und mussten zum Amt. Für sie zahlten die Träger der Sozialhilfe in 2012 insgesamt rund 3,2 Milliarden Euro. Die Zahl der Hilfeempfänger steigt seit 1998 stetig an. Damals waren es etwa 290.000 Pflegebedürftige, die trotz Pflegeversicherung noch zum Sozialamt gehen mussten.

Der Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen sieht hier ein grundsätzliches Problem in der jetzigen Ausgestaltung der Pflegeversicherung. Noch seien Personen in Pflegeheimen, die im Schnitt gute Renten beziehen. Doch künftig sei mit immer mehr Pflegebedürftigen zu rechnen, die wegen Zeiten von Arbeitslosigkeit, unsteten Erwerbsbiografien und gesenktem Rentenniveau den Eigenanteil an den Pflegekosten nicht stemmen könnten.

Und nicht nur die Höhe der Rente ist ein Problem. Die Pflegeversicherung ist nur eine Teilkasto-Versicherung. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Eigenanteil immer mehr gewachsen. Grund dafür ist, dass alle Kostensteigerungen für die stationäre Pflege allein den Pflegebedürftigen zugeschoben wurden. Die Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung blieb seit etwa 20 Jahren bei einem festen Betrag eingefroren.

Nur für die wenigsten Pflegebedürftigen, diejenigen in der Pflegestufe III, gab es eine Anpassung. "Inzwischen übernimmt die Pflegeversicherung von den meisten Pflegebedürftigen im Heim nur etwa die Hälfte der Kosten", meint Rothgang. "Das ist viel zu wenig. Und das kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist."

Niedrige Renten und eine geringe Übernahme durch die Pflegeversicherung sind der Grund für die steigenden Zahlen der Empfänger von der "Hilfe zur Pflege". "Inzwischen sind etwa 40 Prozent der Menschen im Pflegeheim auf diese Pflegehilfe angewiesen, rechnet Rothgang vor. "Bedenkt man, dass sich die Lage absehbar noch verschärfen wird, kann man nicht mehr davon reden, dass die Pflegeversicherung vorm Gang zum Sozialamt schützt."

Im Koalitionsvertrag wurde zwar festgelegt, den Eigenanteil anzupassen. Was genau damit gemeint ist, ist bislang unklar. "Es stehen viele Versprechungen zum Thema Pflege im Koalitionsvertrag, aber das Geld wird nicht für alle reichen", sagt Rothgang. Er fordert mehr Ehrlichkeit von Politikern und eine grundsätzliche Reform der Pflegeversicherung, damit nicht immer nur an einige kleinen Baustellen herumgedoktort wird.

Stand: 11.02.2014 15:31 Uhr
http://www.tagesschau.de/inland/hilfe-zur-pflege100.html